Der Blick des Gärtners
Was ist Waldorfpädagogik? Dass sie mit ihrer Basis in der Anthroposophie nichts mit einer ausgedachten Theorie oder gar Ideologie zu tun hat, machte Andreas Höyng, Gartenbaulehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe und Mitarbeiter des von Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart, deutlich. "Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, dass Blüt' und Frucht die künft'gen Jahre zieren" - dieses Zitat aus Goethes Faust hatte Höyng als Titel seines Vortrages gewählt im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesungsreihe, die in diesem Jahr unter dem Motto steht "Gute Schule macht gesund – was Kinder jetzt brauchen" steht.
Als erfahrener Waldorflehrer, spezialisiert auf Gartenbau, zog Höyng die Analogien zur Natur in dem Sinne, wie Rudolf Steiner sie für die Pädagogik ins Spiel brachte: Erziehen kann sich jeder Mensch letztlich nur selber. Doch wie der Gärtner und die Gärtnerin kann man auch in der Pädagogik sehr genau beobachten und daraus ablesen, welche Umgebungsbedingungen geschaffen werden können, um das Wachstum günstig zu beeinflussen. "Vom Lehrer wird eine Gärtnerhaltung gefordert", schmunzelte Höyng.
Und so ist der alte Treppenwitz von der Waldorfschule als der Baumschule doch eigentlich als Kompliment zu verstehen. Macht er doch mit diesem Vergleich deutlich, dass die Waldorfpädagogik sich nach den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens richtet und Gras eben auch nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Denn wie in der sogenannten modernen Landwirtschaft geht auch heute in der Schule und schon im Kindergarten die Tendenz dahin, aus Kindern möglichst schnell kleine Erwachsene zu machen. Was aber passiert mit einem Apfelbaum, dem man sozusagen seine Jugendjahre nimmt? "Er blüht früher, er treibt schneller aus. Aber er verwurzelt sich nicht. Er trägt viele Früchte, aber sie verlieren an Aroma und Lagerfähigkeit. Und ohne Pestizide ist er kaum lebensfähig", führte Höyng aus.
Die Waldorfschule dagegen möchte den Kindern und auch den Jugendlichen ihre Zeit zur Reife lassen. Die Frage, was wann und wie in welchem Alter steht im Vordergrund.
Während die Pflanze von Natur aus wächst, kann sich der Mensch nur aus eigener Kraft heraus bilden und zu einem wirklich freien Wesen erziehen. Sein Umfeld kann ihm dabei helfen, ihn auf dem Weg zum lebenslänglichen Lernen zu begleiten. "Der Gärtner schafft lediglich Bedingungungen, gestaltet den Umraum, dass die Pflanze sich ihrem Wesen gemäß entfalten kann. So sollte der Erzieher die Gelegenheiten schaffen , dass das Kind sich frei entwickeln kann", zitierte Höyng Rudolf Steiner, "dem ich all das, was ich heute vermitteln kann, zu verdanken habe".
Die kommende Ringvorlesung findet statt am Mittwoch, 29. Juni 2022
https://www.freie-hochschule-stuttgart.de/de/gut-informiert/veranstaltungen/detail/waldorfschulsozialarbeit-1
Viele unserer bisherigen Ringvorlesungen finden Sie auch auf unserem YouTube Kanal
https://www.youtube.com/channel/UCHKhhtZNg5ByDhXHyilXsRA/videos