Wenn Schule für das Leben bildet

"Die Waldorfschulpädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da im Menschen ist, aufzuwecken" – so beschrieb Rudolf Steiner die grundsätzliche Idee der Waldorfpädagogik. Wann und vor allem wo und wie erleben Schülerinnen und Schüler ihren Schulunterricht heute als etwas für ihr Leben Bedeutsames? Und was kann Literaturunterricht beitragen?
"Lesen als Kunst: Literaturdidaktik in der Waldorfpädagogik - Subjektbildung durch ästhetische Erfahrung im Jugendalter" ist der Titel der Dissertationsarbeit von Dr. des. Philipp Kleinfercher, die er gerade mit summa cum laude abschloss. In diesem Herbst wird sie als Buch erscheinen. Und mit ihren grundlegenden Ausführungen aufzeigen, inwiefern Waldorfpädagogik ganz grundlegend wertvolle Anregungen für schulische Bildung bieten kann.
"Individualität bildet sich aus, weil der Mensch der Welt in ihrer Gegenständlichkeit begegnet, weil die Dinge auf ihn zukommen, weil auf ihn andere Menschen zukommen und ihm so die Welt zur Gelegenheit und Aufgabe wird. Diese philosophische Idee hat Steiner in die Waldorfpädagogik einfließen lassen. Er bezeichnet dieses besondere Individualitätsverständnis in seinen philosophischen Texten als ,peripheres Ich‘", zitierte Kleinfercher seinen Doktorvater Prof. Dr. Michal Zech von der Alanus Hochschule.
Seinen Vortrag begann er mit einer ganz individuellen Übung:
"Denken Sie an ein philosophisches oder literarisches Werk, das für Sie eine Entdeckung von Aspekten Ihres peripheren Ichs in Ihrer Jugend bedeutete. Welche Bilder, Gedanken, Empfindungen, Impulse und Begriffe entstehen, wenn Sie dieses Werkerinnern? Was konnten Sie durch dieses Werk im Hinblick auf Ihre Weltbezüglichkeit aushandeln? Nehmen Sie dieses Werk in Bezug auf die nun folgenden Betrachtungen innerlich mit!"
Beginnend in der Frühromantik schilderte Kleinfercher die Grundlagen ästhetischer Selbstbildung in der Rezeptionsästhetik. Die Suche nach dem eigenen Ich - der Leser, die Leserin wird zum Autor. Ein Prozess der inneren Wandlung. In der Literatur lassen sich Antworten finden auf die eigenen latenten Fragen, die den individuellen Bildungsprozess anregen. Die kompakten Ausführungen von Kleinferchers Vortrag machten deutlich und rissen an, was die Leserin oder der Leser bei der Lektüre des Gesamtwerkes seiner Dissertation an Tiefe und Komplexität zu erwarten hat.
Soviel zur Theorie und ihren historischen Zusammenhängen – am Ende des Vortrages wurde deutlich, dass viele der Anwesenden, aufgeweckt und angeregt durch die Ausgangsübung, den Ausführungen des Vortrages auf einer sehr persönlichen Ebene bestens folgen konnten: Erinnerungen an literarische Werke, die das eigene Leben prägten.
Kleinfercher machte anhand des Unterrichtsaufbaus und des Lehrplanes der Waldorfschule deutlich, wie die Waldorfpädagogik diesen Prozess der Selbstbildung begleitet und unterstützt – nicht zuletzt vor allem mit der Lektüre von Ganzschriften. Waldorfpädagogik richtet sich in der Methodik und der Didaktik auf Dialog, Beziehung und Resonanz aus. Sei es Wolfram Eschenbachs Parzival oder Goethes Faust – der Epochenunterricht der Waldorfschule macht es möglich, dass sie sich in ihrer ganzen Wirkung entfalten können und nicht in Fragmenten als bildungsbürgerliches Aperçu erscheinen.