"Wir wollen das Licht verteilen"

Gerade erst wurde SEKEM von der UNO zum "champion of the earth" gekürt. Mit dem Aufbau von SEKEM wurde eine Vision zur Realität: In den 70er Jahren gründete Ibrahim Abouleish eine Oase in der Wüste, die für nachhaltige Entwicklung stehen sollte. Mit Nahrungsmitteln, Heilmitteln und Kleidung wollte er dazu beitragen, die Grundbedürfnisse der Menschen in seinem Heimatland Ägypten zu decken. Inzwischen ausgezeichnet mit wohl allen bedeutenden internationalen Preisen, neben der gerade verliehenen höchsten Umweltauszeichnung der UNO auch dem Gulbenkian prize for Humanity 2024, hat die große Gemeinschaft von SEKEM bewiesen, wie Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft und Kultur Hand in Hand gehen können.
Seit vielen Jahren schon begleitet und unterstützt die Freie Hochschule Stuttgart SEKEM, die daraus hervorgegangene Heliopolis Universität gehört zu unseren wissenschaftlichen Kooperationspartnern.
Als der Gründer 2017 verstarb, wurde die Vision erweitert und in die Zukunft geführt: "Wir wollen die Zäune um SEKEM einreißen", sagt Ibrahims Sohn Helmy Abouleish. Die ganzheitliche und nachhaltige Entwicklung im Rahmen von biologisch-dynamischer Landwirtschaft, ihren Produkten und den Lebensbedingungen der Menschen, die sie herstellen, soll jetzt bis zum Jahre 2057 für ganz Ägypten realisiert werden: Eine "economy of love" soll sich entwickeln.
Eine Vision – nur für Ägypten? Oder können auch wir uns hier in Europa von den insgesamt 16 Entwicklungszielen, die SEKEM sich gestellt hat, inspirieren lassen? Bezogen auch auf die Gemeinschaft der Waldorfschulen und ihrer Ausbildungsstätten? Wie sähe sie aus, eine "school of love", eine neue, Kraft schenkende Vision nach dem großen Jubiläum der Waldorfpädagogik im Jahr 2019?
Petra Plützer sprach mit Helmy Abouleish.
Ihr Vater hat SEKEM als eine große Schule bezeichnet, als den Beginn einer essenziellen Bildungsoffensive. Wo steht SEKEM heute? Was sind die größten Herausforderungen?
Seit 2017 stellen wir uns die Frage, wie wir unser Modell mehr in die Gesellschaft bringen und relevant für den Systemwandel machen können, der ja überall ansteht - ob in der Bildung, in der Landwirtschaft oder in der Wirtschaft. Die größte Herausforderung ist es dabei, einen Hebel zu finden für eine Skalierung. Das ist nicht einfach, das erlebt man ja auch in Europa – warum ist biologisch-dynamische Landwirtschaft nicht längst main stream? Wenn man sich das fragt, kommt man schnell drauf: wir sind zwar super gut und gesund, aber wir sind halt teurer und damit immer in einer Nische mit denjenigen, die bereit sind, diesen Preis zu zahlen. Das Gleiche gilt auch bei der Frage nach der Energie, nach allen möglichen Sachen.
Unsere Vision ist eine ganzheitliche und nachhaltige Entwicklung in Ägypten. Wir haben uns also 2017 vier Aufgabenfelder gestellt, innerhalb derer wir uns die 16 Innovationsziele von SEKEM vornehmen. Dabei stellt sich auch die Frage: Wie können wir unsere Ideen übersetzen in die Sprache der Welt? Denn vieles von dem, was wir tun, ist inspiriert aus der Anthroposophie, vom Islam, aus geisteswissenschaftlichen Quellen verschiedenster Art. Und wenn man dann nicht lernt, das alles zu übersetzen in die Sprache von heute, des 21. Jahrhunderts, die Sprache von einem einfachen Bauern, der Analphabet ist oder von einem Studenten, der acht Stunden am Tag auf sein Smartphone guckt, dann hat man ein Problem. Das können wir natürlich auf den anderen schieben und sagen, er versteht uns halt nicht. Aber wir fragen uns: was können wir tun, damit wir verständlich werden? Was können wir tun, damit wir es in seine Sprache bekommen? Ich glaube, an dieser Stelle müssen wir am meisten forschen.
In der Landwirtschaft stellt sich die Frage: Wie bekommen wir das Ganze in einen Prototypen, der relevant ist für diese rund sieben Millionen kleinen Bauern in Ägypten? Für ihren Alltag ist SEKEM mit allem, was hier drumherum ist und was sie auch besuchen können, kein Modell. Es ist zu groß, zu komplex, zu schwierig für sie.
Mit dem Modell ergibt sich also die nächste Frage: wie bekomme ich es sozial skaliert? Wo ist mein erster Kreis, mit wem kann ich das ausprobieren, wie kann ich die Menschen dabei unterstützen in der Umsetzung?
Für die Landwirtschaft haben wir das jetzt durchexerziert – wir sind inzwischen bei 15.000 Bauern und werden in eineinhalb Jahren 40.000 Bauern umgestellt haben auf eine biologisch-dynamische Bewirtschaftung ihrer Felder. Das klingt jetzt erstmal viel und groß – aber die wirkliche Frage dahinter ist natürlich: Wer macht das Umstellen, wer macht die Beratung, wer schult, wer macht die Vorfinanzierung, wer kümmert sich um die Gesundheit der Menschen, wer kümmert sich darum, dass sie ins offizielle Banksystem eingebunden werden, so dass man ihnen überhaupt Geld überweisen kann? Da gibt es so wahnsinnig viele Sachen, die wir bearbeiten müssen. Und hier ist unsere größte Herausforderung: Unsere Kapazität.
Stellt sich nicht auch die Frage, wie die Umstellung wirklich nachhaltig gelingt, auch wenn der Schulungs- und Betreuungsteil beendet ist?
Man muss sie alle richtig gut anbinden, schulen, in ein soziales Netz und eine Gemeinschaft bringen, in der sie sich dann auch zu Hause fühlen. Wir bekommen heute als Rückmeldung: Für sie ist das Wichtigste an dem ganzen Modell die Tatsache, gesehen zu werden, und Teil einer sozialen Gemeinschaft zu sein. Das ist wichtiger noch, als mehr Geld zu kriegen. Das bedeutet natürlich viel Mühe, sich auf sie einzulassen, sie im Bewusstsein zu halten, mit ihnen zu feiern. Wir sind inzwischen in fast allen Bundesländern aktiv.
Heute beziehen sich die Bemühungen von SEKEM auf das ganze Land – welchen Stellenwert hat die Mutterfarm?
Wir haben uns 2017 ganz bewusst entschieden, unsere limitierten Kräfte nicht in die Vergrößerung und Ausbau der Heliopolis Universität, der SEKEM-Farm oder Isis zu stecken, sondern wir wollten uns verstärkt mit der Gesellschaft in Verbindung bringen. Von daher geht für die SEKEM-Gemeinschaft der Blick heute mehr nach außen als nach innen. Das Interessante ist: Seit wir diesen Blickwinkel verändert haben, entwickeln wir uns auch intern sehr gut. Weil eben immer mehr Bewusstsein auch bei unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wächst, dass sie ja eine viel größere Aufgabe haben als z.B. nur Teebeutel abzupacken. Mit diesem Bewusstsein machen sie ihre Arbeit noch einmal effizienter und besser als zuvor. Dieser Weg aber, sich mit der eigenen Arbeit positiv verbinden zu können, muss sehr intensiv begleitet werden
Jetzt machen Sie das alles ja schon sehr lange – hat sich für die Menschen rund um SEKEM ihr Leben nachhaltig verändert? Wie kann es gelingen, was braucht es, um den tieferen Sinn von Bildung an sich selbst zu erleben?
Wir können die Entwicklungsschritte der einzelnen Menschen jetzt schon über fast drei Generationen verfolgen. Und teilweise sind sie gigantisch. Wo haben wir 1977 angefangen, wo haben einige von unseren Mitarbeitern gestanden, wo haben sie gelebt, wie haben sie gelebt, wie geht es ihnen heute und wie geht es ihren Kindern, die unsere Schule oder unsere Universität durchlaufen? Manche dieser Kinder sind heute Dozentinnen und Dozenten – das sind Entwicklungsschritte, die sind größer, als wir sie als Europäer überhaupt nur denken können. Sie gehen von der Lehmhütte ohne Strom direkt ins 21. Jahrhundert. Von daher kann man Entwicklung konkret an Einzelbiografien erleben. Gleichzeitig spürt man, wenn die rund 2000 Menschen morgens nach SEKEM kommen, sie sind auf einer anderen Bewusstseinsstufe als die Menschen in ihrem Dorf zu Hause. Das sieht man ganz pragmatisch an mehr Ordnung, mehr Sauberkeit. Das ist interessant zu erleben, dass so ein gemeinschaftlicher Bewusstseinsschritt möglich ist. Der ist aber natürlich noch nicht so nachhaltig, dass man ihn auch schon wahrnehmen könnte, wenn man heute in die Dörfer geht. Von daher ist das jetzt eines unserer Fokusthemen: Wie kriegen wir unsere Zäune um SEKEM weg? So dass das, was draußen ist, auch das ist, was drinnen ist? So dass das, was sie mitnehmen in ihre Dörfer sie befähigt, ihr Umfeld zu gestalten? Da muss man im Gespräch bleiben, zuhören, hinschauen.
Ist es ein Ziel, dass immer mehr Ägypter, Frauen wie Männer, auch auf der Führungsebene von SEKEM mit einsteigen? Zu deutsch: Wäre es ein Ziel, dass die Europäer sich eines Tages sozusagen überflüssig machen?
Überflüssig - das hoffe ich nie! Weil gerade in dieser Zusammenarbeit über Kulturen hinweg mehr entstehen kann, als wenn man sozusagen nur in seinem eigenen Topf bleibt. Dieses Internationale, dieses Offene, Brücken bauen zwischen Kulturen - ich hoffe, das bleibt uns in SEKEM ewig erhalten.
Bei den Ägyptern und Ägypterinnen hier ist eine unglaubliche Entwicklung im Gang. Seit zwei Jahren arbeiten wir in verschiedenen Kreisen mit Menschen zusammen, die Fragen haben, die Dinge hinterfragen. Wir nennen sie "Lichtträger". Wir unterstützen sie dabei, unsere Quellen noch besser zu verstehen. In zwei Gruppen machen sie jetzt z.B. den einjährigen Kurs zur Philosophie der Freiheit. Zusätzlich bekommen sie Kurse in Leadership auf der Basis von Achtsamkeit. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt: Wie viele bleiben dran? Sind hier zukünftige Mitglieder unseres Zukunftsrates dabei, die es sich selbst zur Aufgabe setzen, die Vision von SEKEM ständig weiterzuentwickeln und lebendig zu halten? Momentan hat der Rat 14 Mitglieder, vier davon in Europa. Es ist ein Kreis von Menschen, der sich die Frage stellt: Was kommt uns aus der Zukunft entgegen? Wie können wir unsere Zukunft dem sich ständig verändernden Kontext anpassen?
Was bedeuten die zahlreichen Preise, die SEKEM inzwischen erhalten hat, sei es der alternative Nobelpreis oder jetzt die Auszeichnung zum "Champion of the earth"?
Für uns ist das Gesehen werden aus dem Umfeld eine Bestärkung, dass wir auf dem richtigen Pfad sind. Wir haben wirklich viele Preise bekommen! Wenn man in die Beschreibungen hineingeschaut hat, zumindest bis 2007, dann waren wir dabei immer der Leuchtturm in der Wüste, das Modell für die Zukunft. Wir wollten aber kein Leuchtturm bleiben. Von daher ist vor allem der Gulbernikan prize, der die economy of love ausgezeichnet hat, eine Erinnerung für uns, dass es genau darum geht: Wir wollen das Licht verteilen. Diese Preise helfen auch dabei, unsere Idee in die Welt zu tragen. Und sie stärken auch unsere Position im Land.
Natürlich muss man das auch gut ausbalancieren, damit man nicht über den eigenen Erfolg stolpert.
Vieles von dem, was Sie ansprechen, geht ja weit über SEKEM hinaus. Was wäre denn Ihr Rat für uns in Europa? Wie kommen wir z.B. in der Bewegung der Waldorfschulen zu einer neuen Vision, zu einer Begegnung in Liebe, vielleicht einer school of love?
Auf der einen Seite muss man sich darüber klar werden, dass es neue Herangehensweisen brauchen wird in der Zukunft. Und dass man sich trauen muss, neu zu denken. Dass man also nicht in den alten Formen mit ein bisschen Grün oder ein bisschen Waldorf alleine den Wandel hinkriegt, den es braucht. Das ist schonmal ein innerer Schritt, den man machen muss. Der ist nicht angenehm – man muss sich darauf einlassen, alles zu überdenken, bereit sein, Dinge neu und anders zu machen.
Dann muss man natürlich auch eine Gemeinschaft finden, die sich zusammen diese Aufgabe vornimmt. Eine Gemeinschaft aus verschiedensten Menschen, mit den verschiedensten Hintergründen, die man begeistern muss. Aber dann, wenn man die hat, dann ist es natürlich ganz wichtig, dass man mit viel Liebe auf die eigene Arbeit schaut. Wenn man z.B. in unsere SEKEM-Unternehmen schaut – was müssen wir alles machen? Wir kaufen Sachen, wir verarbeiten Sachen, wir haben Mitarbeiter und Zulieferer usw. Da muss man gut hinschauen: habe ich denen genug Liebe entgegengebracht, damit diese Wirtschaft der Liebe die Qualität der Produkte, die hinten raus kommen, auch wirklich mit Liebe lädt? Man muss experimentierfreudig sein. Es gibt noch zu wenig Modelle, denen man folgen kann. Und ich glaube, da braucht es auch den Mut, ein bisschen ins Ungewisse zu gehen.
Die Menschen lebendig auf eine Reise mitzunehmen.
Was wünschen Sie sich als Unterstützung für die Zukunft?
In dem internationalen Austausch liegt für uns ein unglaubliches Unterstützungspotential und ein Potential der Entwicklung – seien es Studierende, oder Dozenten und Dozentinnen. Dieser Austausch, dem liegt ein Geheimnis, ein Wunder inne. Und von daher ist das die größte Unterstützung von unseren Freunden und Freundinnen, die wir uns wünschen: Austausch. Menschen, die kommen, mit Ideen, mit Initiative, und sich einbringen. Das, was die Freunde und Freundinnen hier rein tragen an Liebe, an Kraft, an Ideen, aber auch an Gedanken und Gefühlen, das gestaltet SEKEM mit und ist von daher genauso relevant wie das, was wir tun.
Herzlichen Dank für das Gespräch!