Öffentliche Ringvorlesung
mit Prof. Dr. rer. pol. André Bleicher, Hochschule Biberach
Pinocchio, das Unterschichten-Kind, aus gewöhnlichem Holz geschnitzt, wird auf die Schule geschickt, er soll sozialisiert werde, hat aber gar keinen Sinn für Schule und Bildung und so geht alles gründlich schief. Er läuft davon, schließt sich einer Schauspieltruppe (Wilhelm Meister lässt grüßen) an und hängt schließlich aufgeknüpft am Ast einer Eiche und bleibt nach heftigem Zucken starr und steif hängen. Was gemeinhin im klassischen bürgerlichen Bildungsroman gelingt, dass der (i.d.R. männliche) Held sukzessive zu dem werden kann, was er seiner Entelechie nach ist, das misslingt dort, wo Bildung als Vorgang der Abrichtung und Entfremdung verstanden werden muss.
Pinocchios Erfinder, Carlo Collodi, hatte jedoch nicht mit dem Mitleid der Leser gerechnet und sah sich gezwungen, Pinocchio durch eine gute Fee wieder zum Leben zu erwecken, um in ihn dann alles Widerständige zu ermorden: Pinocchio wird erzogen und erkennt sich am Ende selbst nicht mehr wieder. So entstand der schrecklichste Bildungsroman der Geschichte, der doch hellsichtig die fulminante Studie von Paul Willis (Learning to Labour) aus den 1970er Jahren vorwegnimmt.
Carlo Collodi hat nicht im Sinn gehabt, die Frage nach einer in- und nicht exkludierenden, demokratischen Schule aufzuwerfen. Aber Pinocchio stellt sie, vor über hundert Jahren. Die Scham über in der Schule erfahre Kränkungen treibt ihm das Blut in die Wangen, der Zorn über die erlittene Depravierung lässt ihn erbleichen.
Alle Ringvorlesungen finden jeweils in der Zeit von 11.30 Uhr bis 13 Uhr im Dachsaal der Hochschule statt.
Manche der Vorlesungen werden aufgezeichnet und sind auf dem YouTube-Kanal der Freien Hochschule Stuttgart abrufbar
https://www.youtube.com/channel/UCHKhhtZNg5ByDhXHyilXsRA